Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit und wusste sich in alles wohl zu schicken. Der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen. Er hatte bereits sein zweites Studium abgebrochen, und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie:
„Mit dem wird die Familie noch ihre Last haben!“
Nun geschah es, dass der Vater ihn mahnte: „Mensch, Junge, was soll nur aus dir werden? Ich mache mir ernsthafte Sorgen.“
Wie zur Hölle sollte sich sein Jüngster in dieser Welt nur zurechtfinden? Sein Blick war verstellt, die rosarote Brille war sein stetiger Begleiter.
„Du tappst im Dunkeln!“ urteilte der Vater. „Es kann so nicht weitergehen.“
Weil er aber ein Mann mit Herz war, wollte er seinen Sohn nicht übergehen und fragte ihn, wie er sich sein Leben denn so vorstelle. Von der Antwort erzählt er seinen Freunden am Stammtisch bei jedem Treffen: „Denkt euch, als ich ihn gefragt, womit er sein Brot verdienen wollte, hat er gar verlangt das Gruseln zu lernen!“
Dann huscht ein stolzes Lächeln über das väterliche Gesicht.
Sein Sohn macht heute dunkle Geschäfte.
Aktienfonds, Wertpapiere, Versicherungen.
Die Ausbildung hat ihm der Vater organisiert.
Seitdem gruselt sich der Sohn regelmäßig.
Und verdient dabei auch noch richtig Geld.
© Text: Karin Kontny, nach einem Märchen der Gebrüder Grimm
© Foto: Karin Kontny, histor. Postkarte New York Stock Exchange/ The Nation’s Market Place
(„Be sure to visit the Stock Exchange when you are in New York City. See the vast trading floor – almost as large as a football field – and dramatic displays of America’s great industries.“)